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LESEPROBE
Auszug aus: "Jahreswechsel" von Kersten Flenter:
Der Spaziergang tat gut. Ich hatte Mandelhorn frühmorgens losgeschickt, um Brötchen zu holen und konnte somit sicher sein, den Vormittag frei zu haben. Was einmal Strand war, fand ich ohne Schwierigkeiten, und ich ging ein paar Kilometer durch den Müll und Gestank, tappte ab und zu durch den albernen Schaum der kranken Wellen und ließ mir den Sturm um die Ohren wehen. Splitter meiner Vergangenheit schnitten mir das Hirn ein, Gedanken an verlorene Jahre und gescheiterte Beziehungen, wie das so ist. Ich dachte an Mandelhorn und das 30.000-Seelen-Kaff, das uns beide aufgezogen hatte, traurige Vorstadt. Mit vierzehn hingen wir mit Typen herum, die eine Gang hatten. Ich selbst gehörte nicht wirklich dazu, denn ich hatte kein Mofa und keine Kutte, und meine Eltern hatten mir verboten, mit ins AC/DC-Konzert zu gehen. Nur im Biertrinken hatte ich mithalten können. Wenn wir uns zu viert oder fünft drei Sixpacks geteilt hatten, veranstalteten wir Mutproben an einer Kanalbrücke. Auf den Schützenfesten standen wir immer am Autoscooter, und jedesmal war ich derjenige, der sich gerade in die Kleine aus der Parallelklasse verliebt hatte und den Zwanziger, den Oma mir heimlich zugesteckt hatte, in Chips investierte, in der Regel mit Erfolg, denn nichts war einfacher, als in einem kleinen Elektrowagen den Arm um die Auserkorene zu legen, während eine absolut unsympathische Stimme "Zusteigen bitte!" krächzte, bevor "A walk in the park" von der Nick Straker Band oder "Let`s get back together" von den Promises blechern aus den Boxen dröhnte. Die anderen prügelten sich währenddessen für gewöhnlich mit den Rockern aus dem Nachbarkaff.
Irgendwie bin ich beim Verliebtsein hängengeblieben. Jeden Sommer verliebte ich mich neu, meistens unerwidert, lernte, mehr Bier zu vertragen oder nach übermäßigem Wodka-Lemon-Genuss in die richtigen Büsche zu reiern. Nach und nach verlor ich die Mofa-Gang aus den Augen. Einer nach dem anderen hörte mit dem Fußballspielen auf, und ich war der einzige, der aufs Gymnasium ging. No chance to see. Mit 21 schaffte ich endlich den Absprung aus dem verschlafenen Vorstadtnest und zog in die Stadt. Ich verbrachte die Nächte im Tran auf unzähligen Partys, entdeckte die Kultur kleiner Konzerte und Kneipen und schlug mich ohne Ehrgeiz mit verschiedenen Jobs herum. Ab und zu traf man morgens um sechs in der Disco alte Bekannte aus der Kleinstadt und erkundigte sich nach den üblichen Dingen: Was macht denn der? Und was ist aus dem geworden? Wieviele Kinder hat Conny? Wirklich?
Auf diese Art hörte ich auch von einigen aus der Mofa-Gang. Zwei waren bereits an Überdosen gestorben, einer war verschollen im Schwarzwald, und Marc hatte einen Puff an der B 65. Scheinbar zollte die Vorstadt ebenso ihren Tribut wie die stinkenden Gossen der Stadt, in der ich nach und nach meine Freundin, meine EC-Karte und mein Gewissen verloren hatte. Und vor drei Monaten lief ich zu allem Überfluss Mandelhorn in die Arme, Mandelhorn, dessen Unterarme bislang ihre Keuschheit behalten haben, obwohl sein Äußeres stark einem Mann ähnelt, der gerade verzweifelt versucht, ein Ex-Junkie zu werden, Mandelhorn, der gerade den schlammigen Schotterweg herunterkommt und bedrohlich auf unsere Hütte zusteuert.
Aus dem Buch „Die verschwendeten Jahre“ von Kersten Flenter
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